1990 – Bohrturmbesetzung
Am 21. Juni 1990, dem Tag der Regierungsübernahme von SPD und Grünen in Niedersachsen, besetzt eine Gruppe von 14 Atomkraftgegner/-innen aus dem Wendland die Bohrtürme über den Gorlebener Schächten.
Es ist 8 Uhr morgens, als die Aktivist/-innen den Maschendrahtzaun und die dahinter liegende vier Meter hohe Betonmauer mit selbstgebauten Holzleitern überwinden und die beiden Fördertürme des so genannten Erkundungsbergwerks erklimmen. Gründe, die Türme zu besetzen, gibt es reichlich. Mit den Slogans „Koalitionspapiere sind geduldig, wir sind es nicht“ und „Letzte Schicht – Schacht dicht” und „Gorleben stop! – alle AKWs ab-schalten!“ fordern die Besetzer/-innen die unverzügliche Umsetzung der zwischen SPD und Grünen vereinbarten Pläne zum Ausstieg aus der Atomenergie. Ein „Aus“ für Gorleben, so kalkulieren die Atomkraftgegner/-innen, würde Folgen haben, denn alle AKWs, die Gorleben als Entsorgungsnachweis benutzen, müssten vom Netz genommen werden. Die ganze Endlagergraberei ist aus Sicht der Atomkraftgegner/-innen ohnehin eine Alibiveranstaltung.
Nun ist der Arbeitsalltag dieses Wirtschaftsbetriebes für ein Tag unterbrochen, sind die AKWs einen Tag ohne Alibi. Das Gericht verurteilt die Besetzer/-innen zwei Jahre später zu Bußgeldern. Doch dabei bleibt es nicht: Im Sommer 1993 werden den Turmbesetzer/-innen im Auftrag der Bundesrepublik Deutschland gesamtschuldnerisch Mahnbescheide zugestellt, die später in ein Zivilverfahren über eine Schadensersatzforderung in Höhe von 126 901,10 Mark münden (rund 63 000 Euro). Der materielle Schaden wird mit knapp 300 Mark für durchtrennten Stacheldraht und ein zerstörtes Vorhängeschloss angeführt. Der Löwenanteil aber, die 110 000 Mark „Stillstandskosten“, werden mit den fortlaufenden Kosten der Bauunternehmen für Personal, Maschinen and andere Positionen begründet, dazu noch ein paar Mark Verwaltungskosten. Zusammen: 126 901,10 Deutsche Mark! Eine plumpe Drohung im Mäntelchen eines Zivilprozesses.
BRD gegen Anti-Atom-Szene
Selbstverständlich würden beteiligte Politiker/-innen und Beamt/-innen, die in den ersten 15 Jahren mit politischen Willen und Schlamperei 1,4 Milliarden Mark (rund 700 Mio. Euro) für ein „Erkundungsbauwerk“ und ein mehr als fragwürdiges Endlager in Gorleben ausgegeben hatten, finanziell niemals zur Verantwortung gezogen werden. Was für die Betreiber aus der Portokasse zu begleichen wäre, bedeutet für die Turmbesetzer/-innen einen Angriff auf ihre finanzielle Existenz. Und genauso soll es auch verstanden werden. „Von uns kriegen sie keinen Pfennig!“ Das steht schnell fest. Für die erste Instanz vor Gericht fallen rund 30 000 Mark an. Durch Bürgschaften, Spendensammlungen Veranstaltungen und Aktionen kommen schon nach kurzer Zeit um die 22 000 Mark zusammen. Ein Klage-Fonds für die Prozesskosten wird eingerichtet um die Weiterführung des Prozesses durch alle Instanzen finanziell ermöglichen.
Die erste Instanz
…So vergehen weitere Jahre. Der dritte Verhandlungstermin gegen die 14 Turmbesetzer/-innen findet am 1. März 1995 vor dem Landgericht Lüneburg statt. Er ist eine Farce: Es klagt nämlich nicht etwa die Deutsche Gesellschaft zum Bau und Betrieb von Endlagern (DBE), die in Gorleben bohrt und von den Stromkonzernen für alle notwendigen Kosten bezahlt wird, sondern die Bundesrepublik Deutschland. In Lüneburg selbst aber tritt das Bundesamt für Strahlenschutz (BfS) als Klägerin auf. Der Grund: Vater Staat hat vorauseilend der Atomfirma DBE schon mal 126 901,10 Mark für den demobedingten Stillstand überwiesen.
Trittin beendet Marathon
Am 3. Mai 1995 wird das Urteil in diesem einmaligen Schadensersatz-Prozess bekannt gegeben. Die Aktivist/-innen sollen die 126 901,10 DM plus Zinsen wegen Stillstandskosten bei den Erkundungsarbeiten im Gorlebener Salzstock zahlen. Ein Schock, der aber doch Kampfgeist weckt: Es wird – natürlich – Berufung eingelegt. Aber auch das Oberlandesgericht Celle findet die Schadenersatzforderungen der Bundesrepublik gegen die Turmbesetzer rechtens. Der Prozessmarathon unter dem Motto „Niemals aufgeben …“ geht weiter. Nächster Schritt: Revision beim Bundesgerichtshof in Karlsruhe. Und so weiter. Und so fort.
Erst zehn Jahre später, am 9. November 2000, verkündet das Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und nukleare Sicherheit in einer Pressemitteilung:
Schlussstrich in Verfahren gegen Demonstranten.
Nach über zehn Jahren wird unter das Schadensersatzverfahren gegen die „Turmbesetzer“ von Gorleben ein Schlussstrich gezogen. Bundesumweltminister Jürgen Trittin hat das Bundesamt für Strahlenschutz angewiesen, die Klage gegen 14 Atomkraftgegner, die im Juni 1990 Fördertürme des Erkundungsbergwerks in Gorleben besetzt hatten, zurückzunehmen. Die Demonstranten waren von der damaligen Bundesregierung auf insgesamt 100.000 DM Schadensersatz verklagt worden.
Die Rücknahme der Klage wurde möglich aufgrund der Atomkonsens-Vereinbarung zwischen der Bundesregierung und den Energieversorgungsunternehmen. In der Vereinbarung hatten die Unternehmen erklärt, auf die Erstattung geleisteter Vorauszahlungen hinsichtlich der Erkundung des Salzstocks Gorleben zu verzichten. Damit ist auch der Schadensersatzanspruch des Bundes gegen die Demonstranten gegenstandslos geworden.
Bundesumweltminister Jürgen Trittin: „Es war nach über 10 Jahren höchste Zeit, dass ein Schluss-strich unter dieses Verfahren gezogen wird. Ich freue mich, dass dies durch die Konsensvereinbarung möglich geworden ist.“
In der Rückschau ist die damalige Absicht klar zu erkennen: Demonstrieren gegen die Bonner Atompolitik sollte teuer und für kritische Bürger/-innen in seinen Folgen unberechenbar werden. Angedrohte Strafen sollten die Existenz bedrohen und das Demonstrationsrecht damit eingeschränkt werden. Ohne die solidarische Unterstützung vieler Menschen, ohne den engagierten Einsatz von Jurist/-innen und ohne den langen Atem des wendländischen Widerstands, hätte das Vorgehen, Demonstrant/-innen für einen Akt zivilen Ungehorsams mit Schadensersatzforderungen zu belegen, seinen Lauf genommen.
erschienen in: Gorleben Rundschau, Ausgabe 09/11-2020, von Birgit Huneke